Die Regeln der Überwinterung
von Dr. Gerhard Liebig
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Der kritische Zeitraum für ein Bienenvolk ist der Spätsommer/Herbst, wenn es sich mit der Aufzucht von Winterbienen auf den Winter vorbereitet. Diese müssen im Puppenstadium vor Varroabefall geschützt werden, damit sie gesund schlüpfen und den langen Winter überstehen können. Die Langzeituntersuchung nutzte ich auch, um den Einfluss von imkerlichen Massnahmen, Standort, Tracht und Witterung auf die Volks- und die Befallsentwicklung zu untersuchen (Abb. 1). Dazu führte ich von März bis Oktober Populationsschätzungen von Alt- und Jungvölkern im Abstand von 21 Tagen durch. Manchmal fiel die letzte Schätzung auch erst in den November und die erste bereits in den Februar. In neuerer Zeit ist das die Regel.
Ein- und Auswinterungsstärke
Die Überwinterung eines Volkes beurteilt man, indem man die Volksstärke zur Ein- und zur Auswinterung miteinander vergleicht. Die Auswertung der Populationsdaten von 3’258 Völkern — erhoben während meiner «Hohenheimer Zeit» zwischen 1989 und 2011 —zeigt, dass die beiden Grössen zusammenhängen: Je stärker ein Volk einwintert, desto stärker wintert es in der Regel aus. Im Durchschnitt verliert ein Bienenvolk während des Winters etwa 30% seiner Einwinterungsstärke. Dies wurde unter anderem bei den von 2012—2023 durchgeführten Populationsschätzungen an Bienenständen im Ruhrgebiet bestätigt. Es kommt immer wieder vor. dass ein Bienenvolk im Spätherbst noch Brut pflegt. Doch sorgt diese lediglich dafür. dass ein Volk mit einem entsprechend grossen Anteil jüngerer Winterbienen in den Winter geht, aber nicht dafür, dass es den Winter besser oder schlechter übersteht.
Wachstum im Winter?
Bienenvölker können im Winter wachsen. Auch wenn das eher die Ausnahme ist. Ich erinnere mich an ein Volk, das diesbezüglich einen besonders nachhaltigen Eindruck bei mir hinterliess. Es wurde 1994 mit 3’125 Bienen eingewintert, und war bei der Auswinterung im folgenden März 10’875 Bienen stark. Mit 199 kg aus Blüten-, Wald- und Tannentracht war es 1995 zudem das Volk mit der besten Honigleistung in der gesamten Untersuchung.
Wachstum im Winter beziehungsweise zwischen den beiden Populationsschätzungen im Oktober/November und März ist ausschliesslich mit einer entsprechenden Brutleistung gegen Ende des Winters oder im zeitigen Frühjahr zu erklären. Darauf deutet der Vergleich der durchschnittlichen relativen Volksstärke mit der an der Klimastation Hohenheim gemessenen Wintertemperatur hin (Abb. 3 ).
Wintertemperaturen
Milde Winter werden in der Regel von den Völkern besser überstanden als kalte (Abb. 3). Die Aufschlüsselung nach den drei Wintermonaten weist der Temperatur des Monats Februar eine grössere Bedeutung zu als der vom Januar. Je wärmer diese Monate sind, desto weniger schrumpfen die Völker während des Winters. Die Dezembertemperatur ist dagegen ohne Bedeutung.
Das Sterberisiko
Die Höhe des Sterberisikos (Abb. 2) im Winter ergibt sich vor allem aus der Eiwinterungsstärke und dem Varroabefallsgrad der Winterbienen. An warmen Standorten wie im Neckartal, im Rheintal und auch im Ruhrgebiet liegt das Sterberisiko ansonsten gesunder Völker bei drei Prozent, wenn sie im Oktober über 5’000 Bienen aufweisen. An kalten Standorten, wie im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb sollte ein Bienenvolk im Oktober hingegen mindestens 7’500 Bienen haben. Füllt die Wintertraube eines Volkes bei Frost halbwegs vier oder mehr Wabengassen, muss man sich keine Sorgen machen; es sei denn, nach der Restentmilbung sind mehr als 1’000 Varroen gefallen. Dann wäre die Schadschwelle des Befallsgrades von zehn Prozent der Winterbienen bei Völkern, die mit weniger als 10’000 Bienen eingewintert wurden, überschritten. Man darf sich dann nicht beklagen, wenn solche Völker trotz Restentmilbung schwach auswintern oder im Frühjahr sogar verstorben sind.
Faktoren ohne Einfluss
Ohne Bedeutung für die Überwinterung sind Beutenisolation, Wabengrösse, Abstammung der Königin (Buckfast oder Carnica), die Nutzung einer späten Pollentracht sowie die Frage, ob mit Zuckerwasser, Sirup oder Teig aufgefüttert wurde. Das Standortklima (sehr warm, warm, kühl oder kalt) spielt — wenn überhaupt — nur eine untergeordnete Rolle.
Quelle: Deutsches Bienenjournal, Ausgabe 02/2024, Autor: Dr. Gerhard Liebig